Wenn der große Deal zur stillen Depression führt – meine Erfahrung mit M&A im Vertrieb
- Holger Klein

- 25. Aug.
- 2 Min. Lesezeit
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem die Fusion verkündet wurde. In den Fluren knisterte es vor Aufregung, die Präsentationen waren voll von Synergien, Wachstumschancen und neuen Märkten. Für uns im Vertrieb war die Botschaft klar: Jetzt geht’s erst richtig los. Endlich größer, stärker, internationaler.

Doch die Realität sah anders aus. Schon wenige Wochen nach dem Zusammenschluss begann sich ein Gefühl der Lähmung einzuschleichen. Kunden fragten nach klaren Ansprechpartnern – und ich konnte keine Antwort geben. Produkte überschneiden sich, Preismodelle widersprechen sich, Verantwortlichkeiten verschwimmen. Statt beim Kunden zu sein, verbrachte ich Stunden in internen Abstimmungen.
Im Vertrieb ist Klarheit entscheidend. Wer darf was verkaufen? Welche Marge zählt? Was hat Priorität? Wer hat das Sagen? Doch in der neuen Organisation wurde nichts davon sauber geregelt. Jeder Deal wurde zum Kampf – nicht mit dem Kunden, sondern mit der eigenen Organisation. Es war, als würde man versuchen, ein Auto mit angezogener Handbremse zu fahren.
Gleichzeitig prallten Kulturen aufeinander. Wir waren schnell, pragmatisch, auf den Abschluss fixiert. Die Kollegen aus dem anderen Haus waren prozessorientiert, risikoscheu, detailverliebt. Eigentlich kein Problem – Vielfalt kann stärken. Doch statt Integration erlebten wir Silodenken. Jeder verteidigte seine alten Strukturen, als müsse er seine Identität retten. Für Kunden war das spürbar: Sie merkten, dass wir mehr mit uns selbst beschäftigt waren als mit ihnen.
Die größte Enttäuschung: die Führung. Auf der Bühne beschworen sie das „neue Wir“, doch im Alltag fehlte ein klares Bild, wie dieses „Wir“ tatsächlich aussehen sollte. Keine gemeinsame Vision, keine einfachen Regeln, an denen wir uns orientieren konnten. Für mich und viele Kollegen fühlte es sich an, als würde man in einem dunklen Raum nach dem Lichtschalter suchen – und niemand weiß, wo er ist.
So entstand, was ich später als „Post Merger Depression“ bezeichnete: eine kollektive Ernüchterung. Die anfängliche Euphorie wich Resignation. Kollegen, die sonst voller Energie waren, machten nur noch Dienst nach Vorschrift. Kunden wanderten ab, weil sie keine Verlässlichkeit mehr spürten. Und ich ertappte mich dabei, dass ich morgens mit schwerem Herzen ins Büro ging.
Heute weiß ich: Vertriebliche M&A-Integration scheitert selten an der Strategie – fast immer scheitert sie an der Umsetzung und den unterschiedlichen Kulturen. Man unterschätzt, wie sehr Vertrieb Identität braucht: klare Regeln, einfache Botschaften, sichtbare Führung. Fehlt das, entsteht Chaos. Und Chaos frisst Motivation.
Wenn ich zurückblicke, hätte ich mir weniger PowerPoint-Versprechen und mehr ehrliche Gespräche gewünscht: Wer sind wir ab morgen? Wie verkaufen wir ab morgen? Wen stellen wir in den Mittelpunkt – unsere Kunden oder unser Ego? Ohne diese Antworten bleibt jede Fusion ein leeres Versprechen.
M&A kann Wachstum schaffen, keine Frage. Aber nur, wenn man die Menschen im Vertrieb nicht im Nebel stehen lässt. Sonst bleibt nach dem großen Deal nur Ernüchterung – und eine stille, kollektive Depression, die alle Energie frisst.




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